Inklusion ist ein vieldiskutiertes Grundrecht
Doch aktuelle Studie der Lebenshilfe zeigt, dass die meisten Bürger das Menschenrecht nicht kennen
Inklusion hat den Weg in die Politik gefunden, auch in die Kommunalpolitik in Stadt und Landkreis Lüneburg. Dennoch ist weiten Teilen der Bevölkerung die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen als Auslöser für die Inklusions-Debatte weitgehend unbekannt, so eine jetzt veröffentlichte repräsentative Allensbach-Studie, die im Auftrag der Bundesvereinigung Lebenshilfe in Auftrag gegeben wurde. Nur 22 Prozent der Bevölkerung haben von der UNKonvention gehört.
Inklusion bedeutet, dass alle Menschen selbstbestimmt an allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens teilnehmen. Das Ideal der Inklusion ist, dass die Unterscheidung „behindert/nichtbehindert“ beispielsweise am Arbeitsplatz oder in der Schule keine Relevanz mehr hat: „Doch bis dahin ist es noch ein weiter Weg, der in erster Linie behutsam und umsichtig gegangen werden muss“, sagt Ernst-Albrecht von Moreau, Geschäftsführer der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg, im Interview. Inklusion und somit die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am gesellschaftlichen Leben sei kein Zugeständnis der Gemeinschaft, sondern ein Menschenrecht und daher Bürgerpflicht, so der Lebenshilfe-Geschäftsführer.
Die Allensbach-Umfrage hat ergeben, dass die Bevölkerung ganz überwiegend der Auffassung ist, dass Menschen mit einer geistigen Behinderung nur eingeschränkt am gesellschaftlichen Leben teilhaben können und hilfsbedürftig sind. Ein ähnliches Bild ergibt sich für das selbstständige Wohnen, den Besuch einer regulären Schule, eigenständige Urlaubsreisen oder die Teilnahme an Freizeitangeboten. Ist Inklusion nach UN-Konvention angesichts dieses Meinungsbildes hier zu Lande überhaupt durchsetzbar?
Ernst-Albrecht von Moreau: Auch wenn es viele nicht wahrhaben oder öffentlich sagen wollen: Inklusion kostet Geld. Und gleichzeitig gehören die Sozialbudgets schon heute zu den größten Posten der öffentlichen Haushalte. Inklusion erfordert daher auch einen gesamtgesellschaftlichen Dialog, wie viel Inklusion sich die Gemeinschaft leisten will.
Stimmt der Eindruck der Mehrheit der Befragten, dass Menschen mit geistiger Behinderung überwiegend hilfsbedürftig sind?
Ernst-Albrecht von Moreau: Sie benötigen individuelle Unterstützung, weil sie ein selbstbestimmtes und würdiges Leben führen wollen. Helfen heißt aber nicht, ihnen Entscheidungen wegzunehmen, sondern ihnen attraktive und machbare Möglichkeiten aufzuzeigen.
Was tut die Lebenshilfe Lüneburg-Harburg, um Barrieren abzubauen?
Ernst-Albrecht von Moreau: Die Barrieren liegen in der Gesellschaft, wenn es darum geht, die UN-Behindertenrechtskonvention zu realisieren. Unsere Sozialgesetzgebung ist eine große gesellschaftliche und historische Errungenschaft. Sondereinrichtungen bilden aber auch Barrieren, weil sie für Menschen mit Behinderung oft nur Gruppenangebote fördern und nicht, wie in der Behindertenrechtskonvention gefordert, individuelle Angebote. Somit sind Träger von Sondereinrichtungen gefangen in der Sozialgesetzgebung, die sich seit dem Inkrafttreten der Konvention nicht verändert hat. Die bereits begonnene Änderung des Bundesteilhabegesetzes durch den Bundestag ist ein Schritt in die richtige Richtung. Wie weit diese Reform jedoch gehen wird, und ob sie eine gute Ausgewogenheit zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge findet, ist völlig offen. Bei den Angeboten unserer Lebenshilfe bemühen wir uns um Wahlmöglichkeiten und eine möglichst hohe Durchlässigkeit. Auch versuchen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten, Brücken aus den Sondereinrichtungen in die Gesellschaft zu bauen.
Was läuft gut bei der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben der Menschen mit geistiger Behinderung, wo gibt es noch Verbesserungsbedarf für diejenigen, die von der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg betreut werden?
Ernst-Albrecht von Moreau: Die Lebenshilfe Lüneburg-Harburg bietet innerhalb der Grenzen der Sozialgesetzgebung in allen Bereichen wie zum Beispiel bei der klassischen Werkstattbeschäftigung, bei Außenarbeitsplätzen und Produktionsabläufen Wahlmöglichkeiten an, um möglichst viele individuelle Bedürfnisse zu erfüllen. Wir prüfen ständig, ob wir Barrieren beseitigen können. Ganz wichtig ist uns, dass wir Begegnung mit Menschen ohne Behinderung schaffen, bei denen es verständlicherweise auch Barrieren, Ängste und Vorbehalte gibt, wenn sie mit Menschen mit Behinderung in Berührung kommen. Wir gehen über die Arbeitsangebote raus aus den Sondereinrichtungen in die Arbeitswelt. Offenheit und Interesse sind ein guter Nährboden für ein selbstverständliches Miteinander von Menschen mit und ohne Behinderung.
Sind Sie zufrieden mit der Situation beim selbstständigen Wohnen im Einzugsbereich der Lebenshilfe Lüneburg-Harburg?
Ernst-Albrecht von Moreau: Ja, unsere Wohnheime werden in ihrer Nachbarschaft gut akzeptiert. Dafür sind wir sehr dankbar. Allerdings beobachten wir, dass die Wohnungssuche für Menschen mit Behinderung, die in den eigenen vier Wänden selbstständig leben wollen, problematischer wird. Barrierefreie Wohnungen mit bezahlbaren Mieten zu finden, wird schwieriger.
Stichwort Inklusion an Schulen. Wie schätzen Sie die Rahmenbedingungen in Stadt und Landkreis Lüneburg sowie im Kreis Harburg ein?
Ernst-Albrecht von Moreau: Neben wenigen gelungenen Beispielen wird das System Schule derzeit völlig überfordert, weil Veränderungen zu schnell durchgedrückt werden, Betroffene nicht gehört und notwendige Rahmenbedingungen nicht geschaffen beziehungsweise abgewartet wurden. Das gefährdet die eigentlich menschenfreundliche Idee von Inklusion. Es würde mich nicht wundern, wenn wir feststellen müssten, dass Bürger zunehmend eine Haltung gegen Inklusion aufbauen.
Warum?
Ernst-Albrecht von Moreau: Weil nicht klar und deutlich gesagt wird, dass Inklusion ein weiter und schwieriger Weg ist, der sorgfältig vorbereitet werden muss, und der entsprechende Rahmenbedingungen braucht, die es im Moment nicht gibt und eindeutig sehr teuer ist. Weil etwa an Schulen nicht nur bauliche Veränderungen nötig sind, sondern auch entsprechendes Fachpersonal vorgehalten und die vorhandene Lehrerschaft qualifiziert werden muss. Denn die individuellen Bedürfnisse der Menschen mit Behinderung, und übrigens auch der ohne Behinderung, sind so vielfältig wie die unterschiedlichen Handicaps.
Geht es denn überhaupt schon, wie von einigen Politikern gefordert wird, ohne das Parallelsystem mit Regelschulen auf der einen und Förder- beziehungsweise Sonderschulen auf der anderen Seite?
Ernst-Albrecht von Moreau: Noch nicht. Das parallele System ist nach wie vor dringend notwendig. Außerdem gibt es gelungene Kooperationsmodelle von Regel- und Sonderschulen. Diese sind vorbildlich, weil Menschen mit und ohne Behinderung voneinander lernen. Regelschulen sind noch nicht für die unterschiedlichen Bedürfnisse von Kindern mit und ohne Behinderung vorbereitet. Es ist unbedingt erstrebenswert, Regel- und Sonderschulen zusammenzuführen. Doch das kann nur langsam und vorsichtig gelingen und ist daher ein langwieriger Prozess. Und was ist das Problem, wenn es seine Zeit dauert, im Ergebnis aber besser wird!?
Wer sollte letztlich darüber entscheiden, ob ein Kind mit einer geistigen Behinderung auf eine Regelschule oder eine Förderschule gehen sollte, eine relative Mehrheit der Bevölkerung (42 Prozent) plädiert in der Allensbach-Umfrage für den Elternwillen, 26 Prozent sagen, die Schulbehörde oder die Schule solle diese Entscheidung treffen. Was sagt die Lebenshilfe Lüneburg-Harburg?
Ernst-Albrecht von Moreau: In unseren Einrichtungen sind die Menschen vor allem dann zufrieden, wenn sie selbst gehört werden und wenn sie, ihre Angehörigen und die Fachleute in einem gelungenen Dialog zu Entscheidungen finden. Menschen mit Behinderung wird schnell die Fähigkeit abgesprochen, die Tragweite von Entscheidungen zu überblicken und zu erkennen, welche Eigenverantwortung sich daraus ergibt. Bei Kindern ist es ähnlich. Daher sollte die Entscheidung letztendlich bei den Eltern liegen.